Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen TherapeutInnen und ÄrztInnen: Eine Win-Win-Win-Situation
Die GIZ – Gesellschaft für interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gesundheitswesen – fördert seit Jahren den Austausch zwischen TherapeutInnen und ÄrztInnen. Präsident Alexander Baillou spricht im Interview über die Entwicklung der Zusammenarbeit, die größten Herausforderungen und warum gegenseitiges Vertrauen und Präsenzveranstaltungen dabei entscheidend sind.

© GIZ
Neben steigendem Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen nimmt auch die Komplexität der Strukturen, Abläufe und Informationen in der Branche zu. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen TherapeutInnen und ÄrztInnen unterschiedlicher Spezialisierungen wird dadurch auch immer wichtiger.
Denn PatientInnen profitieren am meisten davon, wenn dieses Fachwissen ergänzend in ihre Therapie mit eingebunden wird. Doch wie gelingt diese Zusammenarbeit in der Praxis über Berufs- und oft auch Organisationsgrenzen hinweg?
GIZ – Gesellschaft zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Eine Organisation, die genau hier ansetzt, ist die GIZ – Gesellschaft für interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Bei einem ihrer letzten Events, den jährlichen Sommer Sport Fokus Tagen in Obertraun, an denen auch wir von appointmed teilgenommen haben, stand das Thema Netzwerkbildung und interprofessioneller Austausch im Mittelpunkt.
In inspirierenden Gesprächen wurde deutlich: Der Wunsch nach mehr Zusammenarbeit ist da – es braucht aber Strukturen, Vertrauen und digitale Unterstützung, um ihn nachhaltig umzusetzen.
Wir haben mit Alexander Baillou, dem Präsidenten der GIZ, über die Chancen und Herausforderungen interdisziplinärer Zusammenarbeit gesprochen.
Was bedeutet für euch interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gesundheitswesen ganz konkret? Welche Vorteile bringt sie für PatientInnen?

Um das beantworten zu können, muss man ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit schauen. Viele KollegInnen fortgeschrittenen Alters werden sich noch erinnern, dass es zur Jahrtausendwende und Anfang der Nullerjahre noch ganz und gar nicht selbstverständlich war, dass etwa OrthopädInnen/UnfallchirurgInnen und PhysiotherapeutInnen ganz natürlich und auf Augenhöhe diskutiert und zusammengearbeitet haben. Natürlich gab es löbliche Ausnahmen, und diese Netzwerke haben sich auch sehr erfolgreich durchgesetzt.
Ich habe in dieser Zeit sowohl den ÄrztInnen als auch den PhysiotherapeutInnen sehr genau zugehört und bald war klar, dass BEIDE einen Schritt aufeinander zugehen müssen, um einerseits die jeweilige tägliche Arbeitsrealität zu erleichtern, aber vor allem um Kommunikationshürden zu überwinden und die Betreuung der PatientInnen zu verbessern!
Mit Unterstützung einiger KollegInnen, fortschrittlicher ÄrztInnen und auch Firmenpartnern, konnte ich so die GIZ etablieren und zum Erreichen dieses damaligen Ziels maßgeblich beitragen.
Heute ist es für viele ganz selbstverständlich, dass Physios auf Ärztekongressen vortragen, zu Visiten hinzugezogen werden und umgekehrt, dass Abteilungsvorstände und international renommierte ÄrztInnen bei unseren Veranstaltungen ihre Expertise teilen und mit allen anwesenden Gruppen konstruktiv diskutieren. Das macht mich stolz und dankbar gleichermaßen.
Wo siehst Du aktuell die größten Herausforderungen dabei?
Der gesamte Gesundheitsbereich hat viel zu tun, und die gesellschaftliche Entwicklung in unseren mitteleuropäischen Systemen ist teilweise in eine Richtung gegangen, dass sich der/die Einzelne immer mehr als KonsumentIn des Systems und nicht mehr als GestalterIn betrachtet. Das sieht man in vielen Bereichen, auch im politischen Denken. Viele fordern vieles, wenige gestalten und erschaffen. Das ist jedenfalls mein persönlicher Eindruck.
Ja, es gibt vereinzelt kleinere Gruppen, die versuchen unsere Ziele ebenfalls nach unserem Vorbild wenigstens mit kleinen Veranstaltungen und Initiativen zu verfolgen, allerdings scheinen das eher Ausnahmen zu sein.
Die meisten KollegInnen sind offenbar zufrieden mit ihrer Situation oder mit ihrer Arbeits- und Lebenssituation zu sehr gefordert oder zu bequem, um proaktiv Veränderung bewirken zu wollen.
Welche Rolle spielt die GIZ bei der Vernetzung und Förderung interdisziplinärer Zusammenarbeit?
Wie oben beschrieben können wir auf unseren Events, durch unsere jahrelange konsequente Arbeit, mittlerweile ein sehr hohes Niveau zu sehr niederschwelligen Preisen anbieten.
Dazu tragen mehrere Faktoren bei: Erstens Firmenpartner, die unser Standing und unsere Reichweite schätzen und gleichzeitig wissen, dass sie bei uns nicht wie bei vielen anderen Kongressen im Vorraum „abgestellt“ werden, sondern direkt ins Programm und in die Community integriert werden. Das rate ich auch immer den anderen Gruppen, aber auch hier muss man sich das Vertrauen und die Sicherheit durch konsequente und langjährige Verlässlichkeit aufbauen.
Zweitens haben die hunderten ExpertInnen, die mittlerweile auf unseren Kongressen und Workshops vorgetragen haben, nicht nur das Level bei der jeweiligen Veranstaltung hoch gehalten, sondern auch dazu beigetragen, dass bei den darauffolgenden Events gerne auch weitere und neue SpezialistInnen unsere Arbeit durch ihre Beiträge unterstützt haben.

Gibt es Beispiele, wo die Zusammenarbeit besonders gut funktioniert? Was können andere daraus lernen?
Ich denke, diese Frage sollte man den TeilnehmerInnen unserer Events stellen. In meinen Praxen und Netzwerken funktioniert die interdisziplinäre Zusammenarbeit natürlich großartig. Ich berate seit einigen Jahren auch andere PraxisbetreiberInnen hinsichtlich Positionierung und Wirtschaftlichkeit. Dabei spielen natürlich das interdisziplinäre Netzwerken und der Umgang miteinander eine große Rolle. Das Feedback zur Wichtigkeit dieser Themen bestätigt mich in meinem Antrieb und den vielen Stunden Arbeit.
Was war das übergreifende Thema der heurigen „Sommer Sport Fokus Tage“?
Das übergreifende Thema war in dem Fall Sport und der Wissensaustausch zwischen den betreuenden Professionen, also OrthopädInnen, UnfallchirurgInnen, PhysiotherapeutInnen, AllgemeinmedizinerInnen und SportwissenschafterInnen.
Mich persönlich freut bei unseren Veranstaltungen inzwischen besonders die ausgelassene, freundschaftliche, wertschätzende und lustige Atmosphäre, die allen Beteiligten offenbar so viel Sicherheit gibt, dass besonders intensive und fruchtbare Diskussionen entstehen.
Das Level der Vorträge ist sehr hoch. Die Bereitschaft miteinander Sport zu betreiben und auch am Abend nach dem Essen noch bei einem Gläschen und etwas Musik weiter zu diskutieren ist beeindruckend. Ich bin stolz, dass sich die viele penible Vorbereitungsarbeit lohnt, um eine solche Atmosphäre zu ermöglichen! Natürlich ist bei dieser Veranstaltungsreihe das Ambiente des malerischen Salzkammerguts und des herrlichen Hallstätter Sees ein wichtiger Faktor für diese Stimmung. Das lässt sich bei Ein-Tages-Veranstaltungen in fensterlosen Hörsälen nicht erreichen!

Welche Entwicklungen wünschst Du Dir in den kommenden Jahren?
Ich denke wir haben mit unserer Arbeit den Grundstein gelegt und wünschen uns, dass neue Initiativen entstehen und dass diejenigen, die sich schon gebildet haben, auch unseren Weg beschreiten und versuchen, das Level höher zu schrauben und die Interdisziplinarität ernster zu nehmen!
Ich sehe immer wieder beinahe wortgleiche Ankündigungen, die sich „interdisziplinär“ auf die Fahnen schreiben, aber dann doch häufig fast nur PhysiotherapeutInnen präsentieren und Werbung für „Methoden“ und „Schulen“ machen, anstatt evidenzbasiertes Wissen zu vermitteln und zu diskutieren.
Ich rufe alle KollegInnen auf, sich mehr in Präsenzveranstaltungen zu setzen bzw. diese zu organisieren!
Lieblose und überteuerte Online-Kongresse, Webinare und dergleichen können erwiesenermaßen nur einen Bruchteil dessen transportieren, was eine akribisch und detailverliebt organisierte Präsenzveranstaltung mit Atmosphäre und Begegnungen vermag.
Mit Mut und Einsatz lässt sich vieles bewegen!
Weiterführende Links
- GIZ – Gesellschaft zur Förderung der interdisziplinäre Zusammenarbeit
- Alexander Baillou, MSc – Gründer & Präsident der GIZ, freiberuflicher Physiotherapeut
- Erfolgreich interdisziplinär – Vorteile, Tipps und Weiterbildungen für TherapeutInnen